EinStich

Mechanisch setzte Rukus Schritt für Schritt als er langsam das Lager verließ. Er war froh diesen Ort des Blutes verlassen zu können und doch zu betäubt von den Ereignissen der letzten Tage als dass er wirklich denken konnte. Als er das Feldlager, dass eigentlich mehr einem gewaltigen Lazarrett glich, hinter sich ließ, achtete er auf niemanden. Und niemand beachtete ihn. Sie alle die sie hier gekämpft hatten, hatten zu viel Leid, Elend, Blut und Tod gesehen als dass sie einen Blick für die welt um sie herum hatten. Es war ihm als habe ein riesiger Schleier sich über seine Wahrnehmung gelegt der ihn von allem da draußen abschirmte. So setzte er Stunden um Stunden einen Fuß vor den anderen. Sein Körper und seine Seele waren von der Schlacht vollkommen erschöpft und doch trieb es ihn aus dem Lager, nur fort von den mannshohen Leichenbergen, von den Strömen von Blut durch die er gewatet war. Als er das erste Mal seit vielen Stunden von seinen Füßen aufblickte wurde er sich gewahr, dass die Reichsstraße vor ihm menschenleer war. Er war so lange gelaufen dass es Nacht geworden war und nur das fahle Licht des Madamals dass sich durch die dichte Wolkendecke kämpfte zeichnete sanft die Konturen der Straße durch die Ebene. Vor nicht einmal einer Woche waren sie hier mit dem gewaltigen Heerzug gen Osten gezogen und noch immer waren die Spuren nicht zu übersehen. Und doch existierte ein großer Teil dieses gewaltigen Heeres, das sich von Horizont zu Horizont gezogen hatte, jetzt nicht mehr. Die Treusten des Reiches. Wie viele von ihnen waren gefallen. Wie viele von ihnen hatte er sterben sehen. Erschöpft setzte sich Rukus an den Straßenrand. Seine schweren Beine mochten ihn nicht mehr tragen. Kaum hatte sein Körper den Boden berührt übermannte ihn die Müdigkeit und er fiel einfach um und blieb mit weit aufgebreiteten Armen am Straßenrand liegen.

Doch die grausigen Bilder der Schlacht ließen Rukus auch im Schlaf nicht los, er wälzte sich immer wieder hin und her, wimmerte, murmelte, schrie und riss plötzlich die Augen auf. Das Bild des gewaltigen Riesenogers wie er mit seiner Dornenkeule auf ihn zustürmte verschwamm langsam vor seinen Augen und wich dem majestätischsten Anblick den Dere für einen Sterblichen bereit hält. Es verschlug ihm den Atem. Rukus wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Ob Minuten, Stunden oder gar Tage. Doch jetzt öffnete sich über ihm der gewaltige, sternenübersähte Nachthimmel. Die Wolken waren verschwunden und auch das Madamal hatte seinen Tageslauf vollendet und so war nur er hier und über ihm der gewaltige, weltumspannende Tempel seines Herrn. Der Schreck des Traumes wich aus seinen Gliedern und eine tiefe Ruhe überkam ihn. Sein Herr hatte ihn nicht verlassen. Er war immer bei ihm geblieben. Im blutigen Getümmel der Schlacht, in den Strömen von Blut, in Chaos, Gewalt und Tod war sein Herr immer bei ihm gewesen. Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Sein Herr hatte ihn nicht verlassen. Nicht in finsterster Not, nicht in blutigstem Gemetzel. Vorsichtig tastete seine Hand nach seinem Beutel, suchte, fand schließlich ein kleies Bündel und zog es hervor. Rukus entfernte den Stofffetzen und hielt den unscheinbaren Dolch in seinen Händen. Er wirkte winzig, fast zerbrechlich. Noch immer war sein Schaft beschmiert mit dem Blut des Reisenogers in dessen Leib er ihn gerammt hatte. Diese gewaltige Kreatur – niedergestreckt mit diesem winzigen Stück Metall. Rukus richtete sich auf und hielt den Mengbillar vorsichtig in beiden Händen. Der Riesenoger hätte ihn einfach in seiner Faust verschwinden lassen können. Rukus lächelte. Er sah hinauf zu den Sternen und nickte. Ja. Vorsichtig schlug er den Dolch wieder in das Tuch ein und warf noch einmal einen Blick auf das Paket in seiner Hand. „Du hast mir allzeit gut gedient. Nun wirst du meinem Herrn dienen.“ Rukus lachte. Ein Stich. Ein-Stich. Ja das war es. Wie neu beseelt, ja freudig, packte er ihn zurück in sein Gepäck. Dies war die Zeit die große Helden und noch größere Geschichten erschafft. Und er würde dem Reich, ja ganz Aventurien eine Geschichte erschaffen, die seinem Herrn würdig war. Rukus blickte an sich herab und wurde sich zum ersten Mal gewahr, dass er noch immer das volle Ornat trug. Er hatte nach dem Dankesgottesdienst seine Kleidung nicht gewechselt. Er hatte es gar nicht gemerkt. Er war doch tatsächlich im vollem Festgewand eines Phexgeweihten unterwegs. Das Fuchsamulett, die silbergraue Robe, die Gewandschließen, die Ringe, alles. Wieder musste er lachen. Sein listiger Herr hatte ihm wirklich alles bereitet. Ja, dies würde eine große Geschichte werden. Und er würde sie erzählen. Das ganze Reich wird sie erzählen. Rukus lachte. Ja, manchmal mussten Diener der Herrn der Nacht auch im Angesicht Praois wandeln. Was für ein Spaß. Zeit für Legenden. Zeit für Geschichten. Die Bühne war bereitet. Jetzt war es an ihm zu spielen.

Als die Praoisscheibe sich langsam anhob den Himmel zu erstürmen erhob sich Rukus von seiner Lagerstatt und zog eine Tuchmaske aus seiner Tasche. Dies war die Geschichte für seinen Herrn, nicht seine. Sorgfältig setzte er die Maske auf. Es war besser wenn der Held dieser Geschichte ein Diener seines Herrn war und niemand bestimmtes. Aufrecht und mit stolzgeschwellter Brust begab Rukus sich nun auf die Reise gen Gareth. Selbst eine Robe eines Lichtträgers konnte niemand stolzer und unbeirrter tragen als er die seines Herrn. Und kaum ein Lichtträger konnte auffälliger sein als ein Phexgeweihter am hellichten Tage in vollem Ornat mitten auf der Reichsstraße. Rukus spürte die neugierigen Blicke auf ihm ruhen und lächelte in sich hinein. Es würde nur eine Frage der Zeit sein bis er seine Geschichte entspinnen konnte. Zur Mittagsstunde rastete er in einer Schenke am Weg und nutzte die Zeit um Briefe zu schreiben und alles zu erklären. Einen an seinen alten Vogtvikar Hiranor und einen an den Vogtvikar des Händlertempels, der ihm die Bühne bereiten sollte. Zumindest Hiranor würde verstehen. Und ihm helfen, da war er sich sicher. Noch während er an seinen Briefen schrieb zupfte etwas an seiner Kleidung. Verwundert sah Rukus an sich herunter und blickte in die neugierigen Augen eines kleinen Mädchens. „Hey Onkel, was bist du?“ fragte die Kleine gerade heraus. Rukus lachte in sich hinein. Sein Herr hatte ihm einen Stichwortgeber mit blonden Zöpfen und rehbraunen Augen gesandt. „Nun meine Kleine,“ entgegnete Rukus laut genug damit nicht nur das kleine Mädchen sondern auch all die neugierigen Ohren ringsum ihn verstehen konnten. „ich bin ein Mondschatten. Ein Geweihter des Herren Phex.“ „Und was machst du hier Onkel?“ Innerlich jubelte Rukus. Das war zu einfach. „Nun, ich bin auf einer Pilgerreise. Ich will meinem Herrn danken dass er mir beigestanden hat.“ „Bei was hat er dir denn beigestanden Onkel?“ „Nun weißt Du Kleine, ich komme gerade aus einer großen Schlacht. Und dort habe ich gegen einen riesiges Böses, einen Riesenoger, gekämpft. Und mein Herr Phex hat mir beigestanden und meine Hand geleitet. So konnte ich den Riesenoger mit einem einzigen Stich meines Dolches niederstrecken. Und aus Dank werde ich zum Haus meines Herrn Phex pilgern und ihm den wundersamen Dolch zum Geschenk machen.“ Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an und um ihn herum war es still geworden. „Willst Du den Dolch sehen?“ Wortlos nickte die Kleine. Vorsichtig zog Rukus das Paket mit dem Dolch aus seinem Beutel und schlug das Tuch zurück. Die neugierigen Blicke des Mädchend fielen auf den blutigen Knauf und sie lief schreiend davon. „Ihhhh!“ Rukus packte den Dolch zurück in seinen Beutel und schenkte den entsetzten Blicken und dem Schweigen ringsum keine Beachtung. Tut mir leid Kleine, dachte er, aber es wird dich nicht umbringen und doch den Stein ins rollen bringen.

Die Reise zog sich und mit ihm, ja ihm vorweg, reiste die Geschichte vom Phexgeweihten der mit einem einzigen Stich eines Dolches einen Riesenoger erlegt hatte und aus Dankbarkeit in vollem Ornat gen Gareth reist. Und so reiste mit ihm auch das Getuschel. Die Geschichte hatte begonnen und Rukus wusste, er musste sie weiter befeuern um sie zu dem zu machen, was er für sie vorgesehen hatte. Deshalb kaufte er in einem ruhigen, halbwegs unbeobachtetem Moment eine handvoll edler Steine und einen Anhänger mit einem großen Opal in den das Zeichen seines Herrn eingeschnitten war. Das war nützlich. Er wusste auch schon was er damit anfangen würde. Und wer ihm dabei helfen würde. Sein alter Meister Elbrecht würde Rat wissen.

Rukus wusste, er würde auf dem Weg in die Kaiserstadt auch durch sein Heimatdorf Grambusch kommen. Doch mit der Tuchmaske und in vollem Ornat würden mit Sicherheit zwar alle ihn sehen, und doch niemand ihn erkennen. Damit dies so blieb konnte er unmöglich direkt in Elbrechts Schmiede gehen. Aber es gab einen Weg. Bedächtig berechnete Rukus seine Schritte. Er musste Grambusch am Abend passieren, sich in der Dämmerung von der Reichsstraße absetzen und zurück in seine alte Heimat schleichen. Er kannte die alten Schleichpfade noch aus seiner Kindheit und er war sich sicher, sie würden noch immer existieren. Als er schließlich gesetzten Schrittes durch seine alte Heimat ging konnte er doch nicht umhin einen Blick auf sein Elternhaus zu werfen. Ob es seiner alten Mutter noch gut ging? Nun er konnte unmöglich riskieren von ihr erkannt zu werden. Später würde er zurückkehren, nicht heute. Als er schließlich eine gute Meile außerhalb des Dorfes war verschwand die Praiosscheibe hinter dem Horizont. Rukus sah sich um. Niemand war mehr in seiner Nähe. Und so verschwand er in den dichten Wäldern seiner Kindheit. Auch wenn er die Pfade seit Jahren nicht gesehen hatte flogen seine Füße förmlich über den weichen Waldboden. Er selbst mochte sich nicht mehr an alle Details erinnern, seine Füße taten es sehr wohl. Und so stand er innerhalb kürzester Zeit am Waldrand, direkt vor Elbrechts alter Schmiede. Feuer loderten darin, und der regelmäßige Rhythmus des Blasebalgs zeigte dass die Werkstatt noch nicht verlassen war. Vorsichtig schlich Rukus sich an und huschte leise hinein. Die glühende Hitze der Schmiede schlug ihm entgegen und vertrieb augenblicklich die Kühle der Nacht. An der Esse stand Meister Elbrecht, vertieft in seine Arbeit. Noch immer war der Geweihte des Ingerimm ein wahrer Hühne und seine gewaltigen Hände ließen den schweren Hammer in seiner Hand wie Spielzeug erscheinen. Rukus erinnerte sich genau wie er als Knabe immer das Geschick bewundert hatte das Elbrecht diesen gewaltigen Pranken abringen konnte. Ein wenig gebückter wirkte er. Einige graue Haare hatten sich in seinen feuerroten Bart geschlichen. Und doch schien er noch immer der alte. „Meister Meeltheuer?!“ rief Rukus in den Raum. Langsam ließ der Schmied den Hammer sinken und drehte sich zu ihm herum. „Der bin ich. Was kann ich für Euch tun…“ Elbrecht stockte kurz als er Rukus’s Ornat erblickte und zog eine Augenbraue hoch „…Euer Gnaden. Mondschatten sind seltene Gäste in meinem Hause. Insbesondere in diesem Aufzug.“ Rukus trat langsam auf den bulligen Schmied zu. „Nun es ist die Stunde des Phex, nicht wahr?“ Elbrecht warf einen Blick auf sein Stundenglas und lachte schallend. „Fürwahr! Nun wie kann ich Euch helfen?“ „Nun Euer Gnaden“ begann Rukus vorsichtig „ich weiß aus alter Zeit um Euer Geschick.“ Langsam fuhr er fort und löste dabei die Tuchmaske von seinem Gesicht „Ich möchte Euch bitten etwas für mich zu fertigen Meister.“ Der flackernde Schein der Esse fiel auf Rukus Gesicht und zeichnete seine Züge sanft in flammendem Rot nach. Elbrecht stockte kurz, doch dann erkannte er ihn. „Irion, mein Junge!“ rief er aus und umarmte Rukus herzlich und fest. „Weiß Deine liebe Mutter dass Du hier bist? Wie geht es Dir?“ Rukus vermochte unter Elbrechts starken Armen kaum zu atmen und doch konnte er ein paar Worte hervorpressen. „Nein, sie weiß es nicht und leider darf sie es auch nicht erfahren. Ich bin auf einer Mission für meinen Herrn unterwegs und, nun ja, ihr versteht?“ Elbrecht ließ von ihm ab und nickte. „Der kleine Irion ein Diener des Fuchs. Nun ein Schlitzohr warst Du schon immer! Ich hätte es schon damals sehen müssen!“ Rukus wurde rot und sah verschämt zu Boden. Wie kam es, dass man in Gegenwart so enger Vertrauter aus seiner Kindheit sich immer selbst wieder wie ein Kind fühlte? Elbrecht war lange Jahre wie ein Vater für ihn gewesen und war es noch. „Nun, ich nehme nicht an dass Du wegen der alten Geschichten hier bist. Was führt Dich zu mir?“ „Seht“, sagte Rukus und holte den eingeschlagenen Mengbillar hervor „wir müssen diesen hier ein wenig aufhübschen. Allerdings ohne dass er seine Patina verliert.“ Elbrecht pfiff Luft durch die Zähne. „Ganz schön blutig. Ich nehme nicht an dass Du mir erzählen willst was es damit auf sich hat?“ Rukus schüttelte den Kopf und Elbrecht nickte verständnisvoll. „Seht, ich habe mir folgendes überlegt…“

Rukus lächelte als Vogtvikar Hiranor ihn in seinen Raum winkte. Hiranors jüngster Grauling saß in der Ecke und sah ihn halb schüchtern, halb erwartungsfroh an. „Nun Füchschen“, hob Vogtvikar Hiranor an,“ Mondschatten Vitus wird dich in den Tempel der Händler führen und Dir Ein-Stich zeigen. Frag ihm nur ruhig Löcher in den Bauch – kaum jemand weiß die Geschichte besser zu erzählen als er.“ Rukus lächelte und nickte dem Vogtvikar dankbar zu. Seit er seinen alten Mengbillar im Händlertempel seinem Herrn geopfert hatte waren schon fast zwei Jahre ins Land gegangen und doch war die Geschichte nicht tot zu kriegen. Er hatte es doch geschafft ihr den notwendigen Schwung mitzugeben. Und man konnte jungen Graulingen an ihr so herrlich die erste Lektion erteilen. Er liebte es diese Lektion selbst zu erteilen und Hiranor wusste das. „Komm Grauling! Es wird Zeit etwas zu lernen!“ Rasch erhob sich der Novize und folgte ihm. „Nun Grauling…“ begann Rukus und hielt kurz inne „Wie war noch Dein Name?“ „Reonar, Mondschatten“ antwortete der Knabe beflissen. Rukus lächelte. Er wusste nicht warum Hiranor seine Graulinge noch immer mit dem so kindlichen „Füchschen“ quälte. Als er selbst noch Hiranors Grauling war hatte er diese Anrede gehasst. Und ganz sicher ging es Reonar ähnlich. „Nun Grauling Reonar“ begann Rukus als sie hinaus auf die Straße traten „was weißt du denn bereits über die Waffe Ein-Stich?“ Der junge Novize lief in eilend trippelnden Schritten neben Rukus her und versuchte dabei einen Blick in sein Gesicht zu werfen. Er hoffte wohl lesen zu können ob er mit seiner Geschichte richtig lag. „Nun“ antwortete der Grauling „Es ist eine meisterliche Waffe. Ein kleiner Dolch von äußerster Eleganz. Ihren Knauf schmückt ein prächtiger Opal in den das Zeichen unseres Herrn Phex eingeschnitten ist und seine Scheide ist über und über mit edelsten Steinen verziert die selbst noch im Mondlicht funkeln wie die Sterne am Nachthimmel.“ Rukus schmunzelte. Oh ihr Kleingläubigen. Ihr seht tatsächlich nur, was ihr sehen wollt. „Sie wurde in der Schlacht der tausend Oger von einem Diener unseres Herrn Phex geführt.“ fuhr Reonar fort „Seinen Namen kenne ich nicht doch man erzählt sich, es muss ein wahrhaft unerschrockener, hühnenhafter Held gewesen sein. Mit strahlenden, leuchtenden Augen und voller katzenhafter Eleganz.“ Rukus zog eine Augenbraue hoch „So so…“ Doch der Knabe blieb ungerührt. „Ja, ja, ganz bestimmt. Ein großer Held unserer Zeit“ fuhr er fort. „Er stellte sich ganz allein einem Riesenoger. Während um ihn herum die Soldaten des Reichs zu Dutzenden fielen, stürmte er unerschrocken mitten in die Reihen der Oger auf die Bestie zu und tötete sie mit einem einzigen Stich seines Dolches. Mit Einstich. Deshalb nennt man ihn so.“ Rukus blieb stehen und erwartungsfroh sah der Knabe ihn an. Prüfend sah er auf den Novizen herab. „Er hat einen Riesenoger, eine gewaltige Kreatur von mehr als drei Schritt Höhe, mit einem einzigen Stich eines Dolches getötet? Wirklich?“ Reonar nickte wild und voller Überzeugung. „Ja, der Herr Phex hat seine Hand geführt!“ Rukus wies auf die Tür des Händlertempels. „Nun Grauling, zumindest Dein Glaube ist stark. Jetzt lass uns noch Deinen Geist schärfen. Nach Dir.“

Der Lärm der ihnen entgegenschlug war atemberaubend. Nun, dies war ein Tempel seines Herrn und wer hier die stille Grabesruhe eines Boronstempels erwartete war fehl am Platze. Und trotzdem war der Händlertempel immer wieder erschreckend, nun ja, laut. Es war als habe jemand den Markt der Straße in die engen Wände des Heiligtums gesperrt. Rukus bahnte sich einen Weg in den hinteren Teil und verlor dabei Reonar nicht einen Augenblick aus den Augen. Der junge Novize bemühte sich zu folgen und doch blieb sein Blick immer wieder an den unzähligen zur Schau gestellten Tempelschätzen hängen. Je tiefer sie in den Tempel hineingelangten, desto ruhiger wurde es bis schließlich vom Lärm der Eingangshalle nur noch ein beständiges Murmeln blieb. Fast wie das Rauschen des Windes in den Baumkronen eines Waldes. Schließlich hatten sie die richtige Stelle erreicht und Rukus blieb stehen. „Siehst du Grauling, dort oben“ sagte er und wies auf eine Mauernische gut zwei Schritt über dem Boden. Reonar blickte hinauf und blieb mit offenem Mund stehen. Rukus lächelte in sich hinein. Die Stelle war wirklich gut gewählt. Nah genug um gesehen zu werden und doch fern genug um vor allzu Neugierigen nicht jedes Detail preis zu geben. „Nun Grauling, was siehst Du?“ „Eine wunderbar gearbeitet Waffe, voller edelster Zier und Steine, gerade gut genug für unseren He…“ Reonar stockte als er in das unzufriedene Gesicht Mondschatten Vitus’s blickte. „Du sollst mir nicht sagen was man Dir erzählt hat Füchschen, sondern dass, was du siehst. Sieh genau hin und bedenke Deine Antwort gut!“ Unsicher stapfte der Novize von einem Fuß auf den anderen. Wenn er ehrlich war konnte er bei dem wenigen Licht hier im hinteren Teil des Tempels auf diese Distanz wenig erkennen. Reonar war unsicher als er erneut begann: „Ich sehe einen Dolch, beinahe vollständig aus seiner Scheide gezogen. Er ist klein. Sein Knauf endet in einem großen Stein, es scheint ein Opal.“ Rukus nickte und Reonar fuhr etwas sicherer fort „Er hat eine fein verzierte kleine, silberne Parierstange am Heft. Der Griff ist mit einfachem Leder umwickelt und scheint stark verschmutzt. Die Klinge selbst ist…“ Reonar stockte und sah den Mondschatten an. „Ja Grauling? Sprich ruhig weiter.“ Unsicher fuhr Reonar fort „Die Klinge selbst ist einfacher gehalten. Ähnlich einfach wie der Griff…“ wieder stockte Reonar, doch Mondschatten Vitus nickte ihm ermunternd zu. „…es wirkt als ob…“ „Ja?“ „…als ob die Teile nicht zusammen passen.“ Jetzt war es raus. Reonar sah auf doch Mondschatten Vitus lächelte noch immer und er wurde sicherer. „Es wirkt als seien hier zwei Dolche zusammengesetzt. Klinge und Griff sind die eines einfachen Dolches, sie sind alt, benutzt und voller Dreck, ja, voller Blut. Die Parierstange, das Knaufende und die prächtige Scheide hingegen sind sauber, strahlen und blitzen.“ „Du hast ein gutes Auge Grauling“ sagte Rukus „aber was sagt Dir das?“ „Nun“ entgegnete Reonar unsicher „hier scheint nicht alles so zu sein wie es scheint?“ Mondschatten Vitus lachte herzhaft und laut. „Fürwahr Grauling. Aber dies ist das Haus unseres Herrn! Gut, jetzt lass uns zurückkehren. Vogtvikar Hiranor erwartet uns. Und mehr wirst du hier für heute ohnehin nicht herausfinden.“ Schweigend gingen sie zurück zu ihrem Heimattempel und Reonar war unzufrieden. Dieser Ausflug hatte mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. Das wurmte ihn.

Nach dem Abendgottesdienst begab Rukus sich auf sein Zimmer. Er würde in dieser Nacht nicht schlafen, das wusste er. Und auch jemand anderes würde nicht schlafen. Reonar brannte auf Antworten, das war seit dem Besuch im Händlertempel nicht zu übersehen. Der Knabe würde nicht einmal eine Nacht warten, so viel war klar. Rukus lächelte und ging zur Mitternachtsstunde in die Küche. Wenn sich in seiner Abwesenheit nicht alles vollkommen geändert hatte, dann würde der Grauling auf seinem Heimweg die alte Bodenluke in der Vorratskammer nutzen um zurück in den Tempel zu gelangen. Es war der beste Weg. Und in seinem Alter hatte auch Rukus noch geglaubt er sei der Einzige der diesen geheimen Ausgang kannte. Er lächelte. Der alte Hiranor war ihm immer einen Schritt voraus gewesen. Und tatsächlich dauerte es nicht lange und etwas klappte in der Vorratskammer. Die Tür zur Küche wurde aufgeschoben und Reonar stürmte mit hochrotem Kopf herein und erstarrte als er Rukus entdeckte. Große Tränen kullerten über die Wangen des Knaben und er zitterte. „Guten Abend Grauling, so spät noch unterwegs?“ fragte Rukus so unschuldig wie möglich. „Es ist alles eine Lüge!“ fuhr ihn der der Grauling an, wollte an Rukus vorbei rennen doch sein Arm hielt den Knaben ohne Schwierigkeiten auf. „Na na Grauling“ entgegnete Rukus im beruhigensten und liebevollsten Ton „was ist denn geschehen?“ Schluchzend versuchte der Knabe sich zu fassen und begann zu erzählen „Ich bin heute noch einmal in den Tempel der Händler zurückgekehrt um mir Ein-Stich aus der Nähe anzusehen. Doch all die Geschichten von unserem Herrn Phex der in der dunkelsten Stunde immer seinen Gläubigen beisteht sind gelogen. Es war nicht der Herr Phex der die Hand dieses Geweihten geführt hat, es war kein Wunder, es war einfach nur Gift!“ Rukus zog eine Augenbraue hoch und unterdrückte mit aller Kraft ein Lächeln. „Nun Grauling, wie kommst du drauf? Was hast du gesehen?“ Langsam beruhigte der Knabe in seinen Armen sich und begann zu erzählen „Ich bin zurück in den Tempel und habe mir den Dolch aus der Nähe besehen. Es ist tatsächlich ein einfacher Giftdolch. Ich konnte sogar noch das Gift riechen, das in ihm war.“ sagte der Knabe noch immer voller Entrüstung. „Dieser Geweihte“ fuhr er fort und spuckte das Wort beinahe heraus „hat den Oger vergiftet. Das war kein Wunder. Vermutlich war es nicht einmal ein Riesenoger!“ „Na na Grauling, nun wollen wir das Kind doch nicht gleich mit dem Bade ausschütten.“ beruhigte Rukus „Ja, du hast Recht, Ein-Stich ist ein Giftdolch, ein Mengbillar. Und nicht einmal ein besonders beeindruckender. Doch letztlich Grauling, ist dies nicht von Bedeutung. Ein Riesenoger, und das es einer war hat selbst die Praioskirche bestätigt, ist so groß wie zwei Männer und so stark wie drei Ritter. Er vermag mit bloßen Händen Bäume auszureißen! Es bräuchte ein halbes Dutzend Krieger um ein solches Untier zur Strecke zu bringen. Doch dieser unser Bruder war allein. Und er hat sich ihm gestellt. Das hätte er nicht gekonnt ohne den Beistand unseres Herrn. Doch niemand, nicht einmal der Schwertkönig selbst, hätte es vermocht mit einem einfachen Dolch ein solches Ungetüm mit einem einzigen Stich dahinzustrecken.“ Rukus sah wie der Knabe sich langsam beruhigte und fuhr ruhig fort. „Dazu Grauling bedurfte es einer List. Und in diesem Falle steckte die List in dem Dolch und war eines der potentesten, gefährlichsten und im übrigen verbotensten Gifte Aventuriens. Und unser Herr ist immer für eine gute List zu haben. Er steht jederzeit, auch in der dunkelsten und blutigsten Stunde an unserer Seite. Und doch erlässt er uns nicht die Verantwortung uns selbst zu helfen. Denn hilf Dir selbst Grauling, dann…“ der Knabe senkte beschämt seinen Blick und beendete murmelnd den Satz „…dann hilft Dir Phex“ „Richtig Grauling. Unser Herr folgt den verschlungenen Wegen. Er entlässt uns nicht aus unserer Verantwortung. Und doch führt er unsere Hand wenn es nötig ist.“ „Aber“ wandte Reonar ein „ein Eingreifen des Herren Phex war doch gar nicht nötig? Das Gift hat den Oger dahingestreckt, oder?“ „Nun,“ erwiderte Rukus ruhig während er langsam seinen Ärmel hochstreifte und seinen ledernen Unterarmschoner entblößte „die Haut eines Riesenogers ist an der dünnsten Stelle so dick wie dieses Leder hier. Und der Dolch kaum schärfer und stabiler als dieses Messer“ entgegnete er, reichte dem Knaben eines der Küchenmesser und legte seinen Arm vor ihn auf den Tisch „Versuch es!“ Entsetzt starrte der Novize ihn an doch der Mondschatten nickte nur zustimmend. „Los versuch es Junge! Mit voller Kraft!“ Zögernd hob Reonar das Messer, sah Mondschatten Vitus erneut an doch der nickte nur fröhlich. Er zögerte Augenblick um Augenblick, versicherte sich erneut und doch schließlich stach er zu. Das Messer raste auf den Arm hinab. Traf. Nichts geschah. Mondschatten Vitus zuckte nicht einmal. Das Messer hatte die Oberfläche des ledernen Schutzes kaum gekratzt. Rukus lächelte. „Siehst du Grauling. Damit das Gift stark genug war den Riesenoger zu töten musste es tief ins Fleisch. Ein-Stich steckte bis zum Heft im Körper des Untiers. So tief, dass es in seinem fast zehnminütigem Todeskampf nicht herausfiel. So tief dass es noch Stunden später an derselben Stelle steckte obwohl ganze Heerscharen von Ogern über die Leiche geklettert waren. Unser Herr hat die Hand geführt die Ein-Stich in den Körper dieses Untiers gerammt hat. Er hat seine Hand schützend über seinen Diener gehalten so dass er unbeschadet das Schlachtfeld verlassen konnte wo so viele andere dahingerafft wurden. War Ein-Stich eine List? Ja, das war er und doch ist unser Herr mit den Listigen. Im Hause unseres Herrn Phex ist vieles nicht wie es scheint. Und eigentlich nichts ist einfach. Es führen keine geraden ausgetretenen Pfade zu unserem Herrn. Und doch wacht er immer über uns.“ belehrte Rukus den Knaben. Der hatte sich wieder beruhigt und nickte. Nicht mehr mit derselben kindlichen Begeisterung mit der er es noch am Morgen vor dem Tempel getan hatte und doch aus tieferer Überzeugung als zuvor. Er hatte seine Lektion gelernt. Rukus lächelte sanft. „Nun ins Bett mit Dir Grauling! Wenn du morgen in der Früh nicht ausgeschlafen bist merkt Vogtvikar Hiranor noch, dass du dich des Nachts herumtreibst und lässt dich das ganze Silber alleine putzen!“ Erschrocken zuckte Reonar zusammen und verschwand eilig in seinem Zimmer. Rukus sah ihm lächeld nach und drehte sich nicht um als hinter ihm Vogtvikar Hiranor aus dem Schatten neben dem Ofen trat. „Wirklich wieder das Spiel mit dem Unterarmschoner?“ fragte der Tempelvorsteher amüsiert. „Nun, er ist noch ein Kind und die Messer in deiner Küche waren noch nie besonders spitz Hiranor. Generationen von Graulingen haben sich damit am Schloss der Kiste im obersten Regal der Vorratskammer versucht.“ Hiranor lachte. „Es ist ein guter Junge. Er hat das Herz am rechten Fleck, ein scharfes Auge und einen wachen Verstand.“ fuhr Rukus fort „Eine gute Wahl.“ Vogtvikar Hiranor lächelte und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Ich weiß! Das waren alle meine Graulinge bisher.“

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